Wir fordern: Endlich konsequent gegen sexualisierte Gewalt vorgehen!

Stellungnahme des AStA vom 16.08.2021


--- English version below ---


Ende Juni wurden wir, nachdem wir eine Stellungnahme zum Umgang der Universitätsleitung mit sexualisierter Gewalt veröffentlicht hatten, von ebendieser um ein Gespräch gebeten. An diesem nahmen zwei Vorstandsmitglieder und eine Person aus dem AlleFLINTA*-Referat teil. Leider stellte sich das Gespräch als wenig gewinnbringend heraus. Der Umgang der Universitätsleitung mit dem Fall der von sexualisierter Gewalt betroffenen Studentin erweist sich als weiterhin höchst kritikwürdig. Als Studierendenvertretung liegt uns viel daran, die durch systematische Ungleichheits- und Unterdrückungsverhältnisse benachteiligten Studierenden in besonderem Maße zu unterstützen, weshalb wir erneut mit Nachdruck den bisherigen Umgang der Universität mit dem Fall kritisieren wollen. Zuallererst möchten wir Kritik an besagtem Gespräch mit dem Universitätspräsidium äußern.


Keine Schutzmaßnahmen des Universitätspräsidiums für Überlebende sexualisierter Gewalt ersichtlich

Universitätspräsident Krausch zeigte die klassische Abwehrhaltung, die den Vorwurf der Passivität im Angesicht von Diskriminierung als schwerwiegender betrachtet als die tatsächlichen Diskriminierungs- bzw. Gewalterfahrungen. Auf unser Anliegen und unsere Argumente wurde nicht merklich eingegangen. Stattdessen wurde die Tatsache, dass sich vonseiten des Präsidiums überhaupt mit dem Fall beschäftigt wurde, in Anbetracht des Tatorts der versuchten Vergewaltigung (Swansea) als Kulanz dargestellt. Diese Aussage erregt Verwunderung und tiefes Missfallen bei uns: Sollte nicht die Sicherheit und Unversehrtheit aller Studierenden qua Amt eine hohe Priorität für jeden Universitätspräsidenten sein?

Außerdem hieß es, die Universität würde allgemein viel gegen sexualisierte Gewalt unternehmen und Fälle könnten ja beim Präsidium gemeldet werden. Dass die Studierenden, die von sexualisierter Gewalt bedroht sind, sich gerade nicht ausreichend geschützt fühlen, scheint nicht von Interesse zu sein. Und dass das Universitätspräsidium selbst wohl keine geeignete (niedrigschwellige!) Melde- oder gar Beratungsstelle ist, steht unseres Erachtens komplett außer Frage. Die an dieser Stelle von uns erneut vorgebrachte Forderung der
Einrichtung einer Antidiskriminierungsstelle, die kompetent und ggf. anonym berät, wurde direkt vom Tisch gefegt.
Alles in allem entstand für uns der Eindruck, dem Präsidium ginge es mehr um das eigene Image als darum, eine Veränderung herbeizuführen. Das Wohlbefinden besagter Studentin schien absolut sekundär zu sein. Aber sie ist es, die die negativen Konsequenzen davonträgt. Und sie muss(te) immer noch mit dem Täter zusammen studieren und sogar zusammen mit ihm auf eine Exkursion fahren. Insofern müssen wir leider bezogen auf das Gespräch schlussfolgern, dass das Bedürfnis nach ordentlicher Antidiskriminierungsarbeit nicht ernst genug genommen wurde und wird. Wir sehen die Universitätsleitung weiterhin in der Pflicht, bei dem aktuellen Fall aus der Stellungnahme aber auch allgemein Verantwortung zu übernehmen und Strukturen zu schaffen, die solche Fälle bearbeiten und auf lange Sicht so zur Sensibilisierung beitragen, dass diese gar nicht mehr zustandekommen. Hierauf möchten wir im zweiten Teil unserer Stellungnahme näher eingehen.


Die Sicherheit Überlebender gewährleisten - unabhängig von rechtskräftiger Verurteilung

Eine zentrale Fehlauffassung der Universitätsleitung in dieser Angelegenheit, die wir kritisieren wollen, ist die Vorstellung, die rechtskräftige Verurteilung des Täters bilde den Hintergrund jeglicher denkbarer Maßnahmen im Universitätskontext. Hiermit wird ausgedrückt: Die betroffene Studentin hat nur Anspruch auf Schutz, wenn ein Gericht urteilt, dass ihre Aussagen wahr sind. Damit verbunden sind mindestens zwei Fehlvorstellungen: Erstens der Mythos, Vergewaltigungsanschuldigungen seien oft Lügen. Entgegen dieses weit verbreiteten (und sexistischen) Vorurteils, liegt der Anteil der Falschaussagen laut einer Studie bei nur drei Prozent. [1] Viel relevanter ist aber, dass die große Mehrheit aller Vergewaltigungen gar nicht erst angezeigt wird. Aufbauend auf unterschiedlichen Studien kann angenommen werden, dass nur zwischen fünf und fünfzehn Prozent der erlebten Vergewaltigungen in Deutschland überhaupt angezeigt werden. [2] Durch Stigmatisierung, Mythen, Gewaltandrohung, ökonomische Abhängigkeit, uvm. werden die Überlebenden zum Schweigen gebracht. Die Frage, die das Universitätspräsidium beschäftigen müsste, sollte daher eigentlich
lauten: Wie können wir ein Klima schaffen, in dem sich Überlebende unterstützt fühlen? Und nicht: Wie können wir uns als Universitätspräsidium vor negativen Konsequenzen aus diesem Skandal sicher sein? Paradox und komplett absurd ist, wessen Sicherheit hier bisher zählt: nicht die einer physisch und psychisch geschädigten Person, sondern die von Menschen, die keinerlei ernsthafte Gefährdung befürchten müssen, allenfalls Kritik und Gegenwind.

Zweitens wird sich darauf verlassen, dass die strafrechtliche Befassung mit diesem Fall als einziges Mittel genüge, um dem Fall und insbesondere der Studentin gerecht zu werden. Dem ist aber nicht so: 8,4 Prozent der angezeigten Menschen wurden Stand 2012 verurteilt, d.h. geht man also von im Mittel zehn Prozent Anzeigequote aus, werden nur in etwa 0,84 Prozent aller erlebten Vergewaltigungen strafrechtlich verurteilt. [3]
Das sind Zahlen, die schockieren und alle gesellschaftlichen Institutionen in die Pflicht nehmen, mehr Eigeninitiative bei der Prävention von sexualisierter Gewalt sowie dem Schutz der Überlebenden zu zeigen. Auch die Universität Mainz sollte sich angesprochen fühlen und beispielsweise durch eine Antidiskriminierungsstelle sowie umfangreiche Aufklärungsarbeit proaktiv gegen sexualisierte Gewalt vorgehen. Der konkrete Fall, der uns zu diesen Stellungnahmen veranlasst hat, ist nämlich kein "Einzelfall": So verweist die Antidiskriminierungsstelle des Bundes auf eine Umfrage unter mehr als 12.663 Studentinnen an 16 deutschen Hochschulen, in der 54,7 Prozent der Befragten (6.930 Studentinnen) von sexueller Belästigung während des Studiums berichten - in vielen Fällen ausgeübt von Kommilitonen. [4] Die Notwendigkeit von Präventions- und Schutzmaßnahmen ist also mehr als offensichtlich.
Das Mindeste aber ist, anzuerkennen, dass die rechtskräftige Verurteilung eines Täters keinesfalls die Bedingung dafür sein darf, die Überlebende zu schützen. Und dieser Schutz bedeutet im hier thematisierten Fall, der Studentin zu ermöglichen in Sicherheit, d.h. Distanz vom Täter zu studieren. Es kann nicht sein, dass der Täter weiterhin an der Universität Mainz studiert und sich frei unter seinen Kommiliton*innen und auf dem Campus bewegen darf. Die Studentin wird damit einem immensen psychischen Druck ausgesetzt. Es ist Zeit anzuerkennen, dass das Problem nicht einzelne bösartige Männer sind, die "über die Stränge schlagen", sondern eine Kultur, die die sexuelle Aggression sowie Gewalt von Männern gegenüber Frauen und Mädchen fördert und zur Norm macht, wissenschaftlich ausgedrückt: Rape Culture. Die Allgegenwart von männlicher sexualisierter (verbaler bzw. psychischer und/oder physischer) Gewalt dient der Reproduktion und Aufrechterhaltung männlicher Dominanz. [5] Sich der Systematik hinter sexualisierter misogyner Gewalt bewusst zu werden, halten wir für unabdingbar, um Sexismus und damit zusammenhängende Gewalt konsequent bekämpfen zu können. Wir fordern von der Universität eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt und mit Maßnahmen zur Bekämpfung ebendieser. Der Schutz von Überlebenden ist kein kulantes Angebot, sondern nur das absolute Minimum! Wir fordern Maßnahmen - sofort!



1 Lovett, Jo/ Kelly, Liz (2009): Different systems, similar outcomes? Tracking attrition in reported rape cases in eleven countries
2 Aus: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, Langfassung der Untersuchung von Schröttle und Müller (2004), herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Sowie: Hellmann, D.F. (2014). Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland. Hannover: KFN.
3 Angaben des Bundesamtes für Justiz, siehe auch: Presseerklärung kfN / Christian Pfeiffer, 17.04.2014
4 Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Bausteine für einen systematischen Diskriminierungsschutz an Hochschulen
5 Vgl. Savigny, Heather (2020): Cultural Sexism: The politics of feminist rage in the #metoo era, S. 120



--- English version --

 

We demand: Finally take consistent action against sexualized violence!

Statement of the AStA from 16.08.2021


At the end of June, after we had published a statement on the handling of sexualized violence by the university administration, we were asked by the same administration for a discussion. Two members of the board and one person from the AlleFLINTA* department took part in the meeting. Unfortunately, the conversation turned out to be of little benefit. The handling of the case of the student affected by sexualized violence by the university administration continues to be highly questionable. As student representatives, we are especially interested in supporting students who are disadvantaged by systematic structures of inequality and oppression, which is why we again want to emphatically criticize the university's handling of the case so far. First and foremost, we would like to express criticism of said conversation with the university presidium.


No protective measures of the university administration for survivors of sexualized violence apparent

University President Krausch showed the classic defensive attitude which considers the accusation of passivity in the face of discrimination more severe than the actual experiences of discrimination or violence. Our concerns and arguments were not noticeably addressed. Instead, the fact that the case was addressed at all on the part of the presidium was presented as goodwill given the location of the attempted rape (Swansea). This statement raises astonishment and deep discontent among us: shouldn't the safety and integrity of all students be a high priority qua office for any university president?

In addition, it was said that the university would generally do a lot against sexualized violence and that cases could, after all, be reported to the presidium. The fact that students who are threatened by sexualized violence do not feel sufficiently protected seems not to be of interest. And that the university presidium itself is probably not a suitable (low-threshold!) reporting or consulting office is, in our opinion, completely no question. Our renewed demand for the establishment of an anti-discrimination office, which would provide competent and, if necessary, anonymous advice, was swept right off the table.
All in all, we got the impression that the presidium was more concerned with its own image than with bringing about change. The well-being of said student seemed to be absolutely secondary. But it is she who is suffering the negative consequences. And she still has to study together with the perpetrator and even go on an excursion with him. In this respect, we unfortunately have to conclude in relation to the conversation that the need for proper anti-discrimination work was and is not taken seriously enough. We continue to see the university board in the obligation to take responsibility in the current case from the statement, but also in general, and to create structures that deal with such cases and contribute in the long term to awareness-raising so that they no longer occur at all. We would like to go into this in more detail in the second part of our statement.

Ensuring the safety of survivors - regardless of legal conviction

A central misconception of the university administration in this matter which we would like to criticize, is the idea that the legal conviction of the perpetrator forms the background of any conceivable measures in the university context. This expresses: the student affected is only entitled to protection if a court judges that her statements are true. There are at least two misconceptions associated with this: First, the myth that rape allegations are often lies. Contrary to this widespread (and sexist) prejudice, the percentage of false statements is only three percent according to one study. [1] Much more relevant, however, is that the vast majority of all rape cases are never reported in the first place. Based on various studies, it can be assumed that only between five and fifteen percent of the rape cases experienced in Germany are ever reported. [2] Stigmatization, myths, threats of violence, economic dependence, and many other factors keep survivors silent. The question that should concern the university presidium should therefore actually be: How can we create a climate in which survivors feel supported? And not: How can we, as a university presidium, be safe from negative consequences of this scandal? What is paradoxical and completely absurd is whose safety counts here so far: not that of a physically and psychologically damaged person, but that of people who need not fear any serious danger, at most criticism and opposition.

Secondly, people rely on the fact that the criminal prosecution of this case is the only way to bring justice to the case and, in particular, to the student. However, this is not the case: 8.4 percent of the people reported to the police were convicted in 2012, i.e. if one assumes an average of ten percent reporting rate, only about 0.84 percent of all experienced incidents of rape are convicted under criminal law. [3] These figures are shocking and require all social institutions to show more initiative in the prevention of sexualized violence and the protection of survivors. The University of Mainz should also feel addressed and, for example, take proactive steps against sexualized violence through an anti-discrimination office and extensive awareness-raising work. The specific case that prompted us to make these statements is, after all, not an "unique case": for example, the Federal Anti-Discrimination Agency refers to a survey of more than 12,663 female students at 16 German universities, in which 54.7 percent of respondents (6930 female students) reported sexual harassment during their studies
- in many cases perpetrated by fellow students. [4] The need for prevention and protection measures is therefore more than obvious.
The least, however, is to recognize that the legal conviction of a perpetrator should in no way be the condition for protecting the survivor. And this protection means in the case discussed here to enable the student to study in safety, i.e. distance from the perpetrator. It cannot be that the perpetrator continues to study at the University of Mainz and is allowed to move freely among his fellow students and on campus. The student is thus exposed to immense psychological pressure. It is time to recognize that the problem is not individual malicious men who "go overboard" but a culture that promotes and establishes as the norm sexual aggression and violence by men towards women and girls, in scientific terms: Rape Culture. The ubiquity of male sexualized violence (verbal or psychological and/or physical) serves to reproduce and maintain male dominance. [5] We believe that becoming aware of the system behind sexualized misogynistic violence is essential in order to consistently combat sexism and the violence associated with it. We demand that the university profoundly address sexualized violence and take action to combat this very violence. Protecting survivors is not something optional, it is just the bare minimum! We demand action - immediately!


1 Lovett, Jo/ Kelly, Liz (2009): Different systems, similar outcomes? Tracking attrition in reported rape cases in eleven countries
2 Aus: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, Langfassung der Untersuchung von Schröttle und Müller (2004), herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Sowie: Hellmann, D.F. (2014). Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland. Hannover: KFN.
3 Angaben des Bundesamtes für Justiz, siehe auch: Presseerklärung kfN / Christian Pfeiffer, 17.04.2014
4 Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Bausteine für einen systematischen Diskriminierungsschutz an Hochschulen
5 Vgl. Savigny, Heather (2020): Cultural Sexism: The politics of feminist rage in the #metoo era, S. 120